Peer Counseling

Peer – sprich: Pier – kommt aus dem Englischen und bezieht sich auf Menschen, die „gleich“ sind, die die gleichen Lebensumstände oder bestimmte Erfahrungen teilen.
Ein Peer kann zum Beispiel sein, wer gleichaltrig ist, wer denselben sozio-kulturellen Hintergrund hat oder wer ähnliche Ausgrenzungserfahrungen gemacht hat.

In unserem Zusammenhang sind „Peers“ solche Menschen, die auf die gemeinsame Erfahrung zurückgreifen können, wie es ist, mit einer Behinderung in derselben Gesellschaft zu leben.

Counseling – sprich: Kaunßeling, mit Betonung auf der ersten Silbe – heißt wörtlich übersetzt „Beratung“.

Peer Counseling in unserem Sinne bedeutet: Behinderte beraten Behinderte – einfühlsam zuhörend, die Erfahrungen und Wünsche des anderen wertschätzend, partnerschaftlich, kompetent, solidarisch und zu selbstbestimmter Lebensführung „ermächtigend“ (Peer Support).

Die dem Peer Counseling zugrunde liegende Annahme ist die, dass jeder Mensch, der die Gelegenheit dazu bekommt, die meisten seiner eigenen Probleme des täglichen Lebens selbst lösen kann.

Demnach besteht die Aufgabe des/der Berater/in vor allem darin, aufmerksam und akzeptierend zuzuhören und Menschen zu helfen, ihre eigenen Fähigkeiten weiter zu entwickeln und ihre Probleme selbst zu bewältigen.

Das wird dadurch erleichtert, dass der/die Berater/in (Peer Counselor/in) selbst behindert ist und zu seinen/ihren körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen steht, woraus sich eine größere Vertrauensbasis entwickeln kann.

Außerdem können behinderte Ratsuchende den/die Peer Counselor/in in einer Modell-Rolle wahrnehmen, die motivierend zur Bewältigung ihrer Schwierigkeiten wirken kann.

Peer Counselor*innen beraten aus einem bestimmten Bewusstsein, aus einer bestimmten Haltung heraus, aber auch mit bestimmten methodischen Ansätzen und Fähigkeiten:

  • Orientieren auf Ressourcen, nicht auf Defizite
  • Bejahung, nicht Verdrängung der eigenen körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen
  • Selbstbewusster Umgang mit der eigenen Behinderung
  • Erkennen von Prägungen (z. B. Opferrolle) und Abhängigkeiten (z. B. von Autoritäten und Fürsorgestrukturen)
  • Selbstverantwortung erkennen und wahrnehmen
  • Diskriminierungen erkennen und praktischen Widerstand entwickeln
  • Achtung vor der eigenen Persönlichkeit, partnerschaftliches Akzeptieren und Wertschätzen der Ratsuchenden
  • Interesse am Peer, an der Begegnung mit ebenfalls behinderten Menschen
  • Empathisches (das heißt: einfühlendes, nicht wertendes) Zuhören
  • Nicht-direktive Gesprächsführung und Krisenbewältigung (ursprünglich beruhend auf der Klientenzentrierten Beratungsmethodik von Carl Rogers, seit einigen Jahren in Deutschland auch mittels systemischer Ansätze und Methoden, z. B. Klaus Mücke)
  • Anregen zum / Begleiten beim Entwickeln und Nutzen passender Problemlösungs-Strategien (z. B. mit der Methodik der Persönlichen Zukunftsplanung PZP)

  • Durch Vorbildrolle Motivation fördern
  • Durch einfühlendes Zuhören entsteht gespürte Akzeptanz und Wertschätzung
  • Von Kostenträgern unabhängige und behinderungsübergreifende Beratung, d. h. im Mittelpunkt steht der/die Ratsuchende
  • Durch die Orientierung auf Fähigkeiten und nicht auf Defizite entsteht Selbstachtung
  • Nicht-direktive Beratungsmethodik fördert Selbstverantwortung und Eigenaktivität

Die Anfänge des Peer Counseling (bezogen auf behinderte Menschen) wurden in den Sechziger- und Siebzigerjahren von schwerstbehinderten Menschen in den USA gemacht, die den Übergang von Anstalten ins „normale“ Leben in der Gesellschaft anstrebten.

Behinderte Menschen gaben ihre Lebenserfahrungen an andere behinderte Menschen weiter und entwickelten eigene Weiterbildungsprogramme, um ihre Beratungskompetenzen methodisch zu verbessern und zu erweitern.

Heute gibt es in den USA rund 400 sogenannte „Independent-Living-Centers (CIL)“, in denen Peer Counseling in allen Lebens- und Arbeitsbereichen erfolgreich praktiziert wird. Ihre Beratungs- und Trainingsangebote werden von unterschiedlich behinderten Menschen genutzt, besonders dann, wenn es um komplexe Probleme geht, deren Lösung eine intensive und längere Trainingsarbeit zur Entwicklung eigener Stärken und Durchsetzungsstrategien erfordert.

Die behinderten Berater*innen werden deshalb gern auch von anderen Institutionen, lokalen Behörden und von Arbeitgeber*innen konsultiert, ihre spezielle Kompetenz und ihre authentische Wirkung werden als notwendig und willkommen wertgeschätzt.

In Deutschland wird Peer Counseling seit längerem in den Selbstbestimmt-Leben-Zentren (ZSL) angeboten, die sich 1990 im Dachverband ISL e. V. zusammengeschlossen haben. Seit einigen Jahren gibt es auch andere Behindertenvereine, die ganz bewusst behinderte Berater*innen beschäftigen.

Peer Counseling ist in der emanzipatorischen Behindertenbewegung entstanden und wird hier sicher auch in Zukunft eine außerordentlich wichtige Rolle spielen.

Es gibt Kooperationsansätze mit lokalen Reha-Strukturen, deren Erfolge von den Ratsuchenden und von Reha-Mitarbeiter*innen sehr geschätzt werden.

Peer Counseling passt genau zum beginnenden Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik und Sozialgesetzgebung der letzten Jahre: Von der Fürsorge zur Teilhabe, von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung und Selbstgestaltung.

Die weitere Verbreitung wird jedoch teilweise noch durch Vorurteile und Konkurrenz-Denken von traditionell eingestellten Institutionen und Behörden gebremst.

Wichtig wären nicht nur öffentlich lobende Anerkennungen (die es inzwischen vielfach gibt), sondern eine Regelfinanzierung der Peer-Counseling-Beratungsstellen und der notwendigen Aus- und Fortbildungen.

Der Bundesverband Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL e. V.) und das mit ihm kooperierende Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben behinderter Menschen (bifos e. V.) haben bereits Anfang der Neunzigerjahre Aus- und Weiterbildungsprogramme für behinderte Berater*innen in Deutschland entwickelt und führen sie seit 1994 erfolgreich durch.

Es werden regelmäßig neue Kurse geplant. Näheres dazu erfahren Sie auf der Webseite www.peer-counseling.org

Einige regionale ZSL´ s bieten Einführungs- und Auffrischungsseminare an, je nach Bedarf, eigenen personellen Ressourcen und Finanzierungsmöglichkeiten.

Auf der Webseite www.peer-counseling.org finden Sie weiterführende Informationen, teilweise auch in Übersetzungen auf Englisch.

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